Man kann nun sicher darüber streiten ob und wie es einem leibeigenen (bis 1794 !) preussischen Bauern ohne Schulbildung und mit ständigem Hungergefühl möglich sein sollte, seine „Schuld“ zu erkennen. Kant hat denn auch im Verlauf seiner bekannten Schrift, der Aufklärung von „oben“, d.h. durch den Fürsten, wieder sehr hohen Stellenwert eingeräumt. Das „Publikum, das sich selbst aufklären sollte“, erläutert Kant mit Bespielen von Gelehrten, Geistlichen, Offizieren und anderen (immer männlichen) Mitgliedern des gehobenen Bürgertums, bevor er gegen Ende, etwas schwammig das Volk in seiner Gesamtheit einbringt.
Die Aufklärung, die ihre wissenschaftlichen und philosophischen Ursprünge in der Antike, im Humanismus und in der Renaissance hat, ist nach meiner Meinung recht bald in zwei fast unabhängig wirkende Teile zerfallen. Im 17.und 18. Jahrhundert wurde sie von Ihren Verfechtern noch eindeutig als Einheit wahrgenommen. Die in die Freiheit entlassenen Menschen sollten gleichzeitig den vernünftigen Umgang mit den nun von mittelalterlichem Aberglauben befreiten Wissenschaften und in gleicher Weise mit der von religiösen Zwängen befreiten Gesellschaft lernen und praktizieren.
Kein Zweifel kann darüber bestehen, dass sich die Aufklärung in den Wissenschaften im 19. Jhdt. rasch und fast vollkommen durchgesetzt hat. Dies unabhängig davon, ob ein Staat monarchistisch-imperialistisch oder – viel seltener - demokratisch verwaltet wurde. Im Gegenteil, der Wettlauf, welche Nation auch in den Wissenschaften die führende sein sollte, wurde geradezu ein Hauptantrieb in den sich entwickelnden Machtstrukturen, die sich in der 2. Hälfte des 19. Jhdts. zunehmend nationalistisch gebärden sollten. Auch die finstersten Diktaturen des 20. Jhdts. wollten in Technik und Wissenschaften eine führende Rolle spielen; last, but not least, zur Entwicklung von Kriegstechnologie. Immerhin hat es sich aber bewahrheitet, dass ohne echte Freiheit in Forschung und Lehre diese Diktaturen technologisch am Ende abgehängt wurden. Denken wir daran, dass die Etablierung einer „Deutschen Physik ohne jüdischen Einfluss“ mit verhindert hat, dass das Nazi-Reich als erstes zu Atomwaffen gekommen wäre. ((Und die Missernten in der SU, auch Marksteine des Niedergangs, waren nicht zuletzt auf die stalinistische, unwissenschaftliche Biologie zurückzuführen. (Mitschurin, Lyssenko))
Im gesellschaftlichen Bereich ist die universale Bedeutung der Aufklärung viel umstrittener, als in den Wissenschaften. Die Vernunft sollte die Richtschnur sein, aber sie stritt von Anfang an gegen menschliche Emotionen (s…Freud) sowie gegen etablierte und neue Machtstrukturen. Es war denn auch keineswegs so, dass plötzlich Freiheit und Menschenrechte für alle gegolten hätten und so ist es bis heute geblieben.
Die US „Declaration of Independance“ von 1776 postuliert bekanntermassen das Recht “auf Streben nach Glück, „the pursuit of happiness”, dies aber ohne jeden Rechtsanspruch.
Immerhin werden 1776 erstmals in einem offiziellen Dokument allgemeine Menschenrechte postuliert, auch wenn sie in der späteren Verfassungspraxis zunächst nur frei geborenen, weissen Männern in vollem Umfang zugestanden wurden, nicht aber Frauen, Sklaven und auch nicht freigelassenen Schwarzen. Dies vertrug sich durchaus mit dem puritanisch- religiösen Weltbild, das die US-Gesellschaft bis heute prägt. IN GOD WE TRUST. Vergessen wir nicht, dass der Hauptansatz des US-Unabhängigkeitsstrebens wirtschaftlicher und nicht tief humanistischer Natur war. Die heute wieder sattsam strapazierte „Tea-Party“ ist ein bezeichnendes Beispiel. Auch die extensive Auslegung des 2. Amendments zum Waffentragen und die nur schleppende in-Fragestellung der Todesstrafe sind schwer als humanistisch einzuordnen. Die grosse Bedeutung des „Bill of Rights“ von 1791 liegt wohl eher bei der Festschreibung von Bürgerrechten der amerikanischen Kolonisten, als im Bereich universaler Menschenrechte.
Ich verzichte aus Zeitgründen auf eine ausführlichere Darstellung der langen und widerspruchvollen Entwicklung der Menschenrechtsdiskussion im Gefolge der franz. Revolution. 1791 wurde in der Déclaration des droits d’homme et des citoyens der Begriff Menschenrechte zum ersten Mal extensiv verwendet. Das alles ist weitgehend bekannt und kann nachgelesen werden.
Nach der wohl schlimmsten Erfahrung der Menschheitsgeschichte wurde der Begriff aber erst wieder nach vollen 157 Jahren, in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO“ von 1948, in seiner universalen Bedeutung verwendet. Dass der Menschenrechtsrat der UNO wegen sehr eigenartiger Mitgliedschaften und oft politisch dominierten Beschlüssen in der Kritik steht, ist bedauerlich, aber verständlich. Immerhin: auch schlimme Diktaturen behaupten heute heuchlerisch, die Menschenrechte anzuerkennen und zu schützen. Man kann es vielleicht als bescheidenen, späten Erfolg der Aufklärung ansehen, dass heute unmenschliche Behandlung weltweit abgestritten und immer dem Gegner unterstellt wird.
Zwischenbemerkung: Ich denke, dass man ernsthaft die Frage stellen darf, ob das Konzept der europäischen Aufklärung auf ewig den Anspruch stellen darf, weltweit das einzig gültige zu sein. Ein Beispiel soll genügen: China verbindet heute die alte, an Obrigkeit und Familie orientierte konfuzianische Grundhaltung mit modernster Technologie und grossen wirtschaftlichen Freiheiten. Chinas Erfolge, auch bei der Lösung immenser sozialer Probleme, sind unbestreitbar.
Und nun doch….Europa!
Warum soll man eigentlich Europa wesentlich mehr auf die Aufklärung verpflichten, als alle anderen Regionen? Ganz einfach weil Humanismus, Aufklärung und Menschenrechte schon in der Renaissance in Europa zu einem grossen, philosophischen Thema wurden. Der Begriff der dignitas als universale Menschenwürde wurde zum ersten Mal von Samuel v. Pufendorf Ende des 17. Jhdst. gebraucht. Nach der Verbreitung des Gedankenguts der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jhdts. beobachten wir allerdings eine widersprüchliche ja zum Teil sogar regressive Entwicklung ihres gesellschaftlichen Einflusses in Richtung Restauration und Nationalismus, die im 20. Jhdt. zu den grössten Kriegen der Geschichte führen sollten.
Die Aufklärung, nach Kant „ Der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ wurde also im 18. Jhdt. angedacht, aber keineswegs zu Ende gebracht, und erst in der 2. Hälfte des 20. Jhdts. zu einem guten Teil verwirklicht, und dies vorwiegend in Europa.
Nach der grausamen Erfahrung des 2. Weltkrieges wurde 1950 die EMRK in Rom verabschiedet, der zivilisatorische Kitt eines sich erneuernden Europas. Sie ist kein Produkt der gescholtenen EU, sondern wird von den Mitgliedern des Europarates anerkannt, dem alle Länder Europas, auch jene der ehemaligen Sowjetunion angehören, mit Ausnahme von Bjelorus. Russland – welches Vorbild – beschloss allerdings im Dez. 2015 die Urteile des Strassburger Gerichtshofs nicht mehr anzuerkennen. (u.a. Fall Chodorkowski, Yukos)
Die EMRK geht in ihren Zielen wesentlich weiter als die UN-Konvention. Z.B. ist die Todesstrafe in Friedenszeiten abgeschafft, in der eigentlichen EU ist sie untersagt. Das Diskriminierungsverbot ist wesentlich weiter gefasst, als in der UN-Konvention. Vor allem können die entstehenden Rechte von allen Bewohnern beim Europäischen Gerichtshof eingefordert werden. Und die EMRK ist ein offenes System, das sich den Zeitläufen anpassen kann.
Auf Basis von humanistischem Gedankengut, Konsensdemokratie und sozialer Marktwirtschaft hatte Europa bis gegen Ende des 20. Jhdts, eine weltweite Vorbildfunktion, die nun endlich, nach vielen, blutigen Irrwegen In Europa, im Wesentlichen von den Gedanken der Aufklärung getragen wurde. „The spirit of 1945“ (Ken Loach) brachte u.a solide Pensionsversicherungen, ein Gesundheitswesen für alle, das Frauenstimmrecht und bis dahin undenkbare persönliche Freiheiten; aber auch den wirtschaftspolitisch notwendigen, modernen Konsumenten aus den aufsteigenden Unterklassen. In Europa bis 1990 entwickelte sich eine einmalige Durchlässigkeit zwischen den alten „Klassen“. Jugendliche der Unter- und Mittelschichten, junge Frauen strömen in die Hochschulen, der Aufstieg einer ganzen Gesellschaft war jederzeit spürbar. Damit einher ging auch eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen. Und genau dieses Vorbild brachte 1989 das morsche Gebäude des „realen Sozialismus“ in Osteuropa zum Einsturz.
Dieses Vorbild scheint heute in den letzten Zügen zu liegen.
Wir meinen heute einige der Ursachen der seither eingetretenen negativen Entwicklungen zu kennen:
Da ist einmal die extrem rasche Integration aller Staaten Osteuropas, die zum Teil grosse Demokratiedefizite aufweisen. (Besonders Wirtschaftskreise begrüssten jedoch die neuen billigen Arbeitskräfte beinahe uneingeschränkt…) Es folgt die ungünstige demographische Entwicklung, die das Erhalten des Besitzstandes der Ansässigen zum Leitbild macht. Und nun – vielleicht doch eher vorübergehend - grosse Migrantenströme denen der Terrorismus zugerechnet wird. Beides wurde zu einem guten Teil durch unkluge Akte des „Westens“ mit verursacht.
Um es aber auch ganz klar zu sagen: keine der bestehenden MR-Konventionen kennt ein Recht auf weltweite freie Niederlassung. Der Status von Migranten und Staatenlosen ist sogar bei Hannah Arendt Gegenstand einer kritischen Reflexion über die Bindung von Menschenrechten an das Konstrukt einer Nation.
Es wird behauptet, dass man auf die verbrauchte ältere Generation in der Politik kaum mehr zählen kann. Aber nun kommt der clou: gerade junge Menschen begeben sich offenbar freiwillig wieder in einen selbstverschuldeten Zustand der Unmündigkeit. Kritische Reflexion wird, sofern überhaupt Interesse besteht, durch Turbo-Information aus Gratis- und Boulevardmedien ersetzt. Anonyme Einzelbeispiele mit „anektodischer Evidenz“ benennen die Sündenböcke: so da sind Sozialhilfebezüger, tumbe Gutmenschen, die „classe politique“, die „Lügenpresse“ - ein Begriff von Goebbels! - und vor allem alles Fremde. Und die oft vor Hass triefenden Leserkommentare voller Schreibfehler scheinen zu bestätigen was „das Volk“ meint. Dass die Boulevardmedien, und so manche der verwandten national-konservativen Bewegungen von Milliardären kontrolliert werden, die ganz andere Ziele haben, wird ausgeklammert, ebenso wie fast jede kritische Haltung gegenüber der Finanzindustrie. Wie üblich, sind uns bei dieser Entwicklung die USA weit voran.
Persönlicher, materieller Erfolg, hedonistische Freizeitgestaltung und ständige Beschäftigung mit den aktuellsten Kommunikationssystemen, sogar mit reinen Spielprogrammen, stehen über allem. Es leben die EM/WM und Pokemon go mit einem Red Bull in der Hand.
Wir beobachten aber immerhin auch, dass in südeuropäischen Ländern mit echten, grossen Sozialproblemen, insbesondere junger Menschen, neue Bewegungen ganz verschiedener Richtungen entstehen, die auf die bequeme Sündenbockmethode weitgehend verzichten.
Kippt Europa die Aufklärung? Vieles, leider zu vieles weist in diese Richtung. Hin zur Bildung von nationalistischen Obrigkeitsstaaten, wie wir dies heute im Osten Europas erleben. Der Terrorismus-Popanz kann leicht zur Überwachung aller Bürger führen, um die „vaterlandslosen Gesellen“ ins Abseits zu stellen. Es gibt erste Anzeichen, dass auch die FM damit gemeint sein könnten.
Faschismus? Nein, das doch nicht, aber sich abgrenzende „Nachtwächterstaaten“, wie sie die damals noch aufmüpfigen Studenten der Revolution 1848 nannten. Dern Hauptaufgaben der „Schutz der Ordnung und des Eigentums“ waren Werden wir demnächst aufwachen und uns „wundern, was alles möglich ist“? (Norbert Hofer) Oder sogar mit Brecht erkennen müssen: „Der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch“.?
Was uns bleibt, ist die uns FM so vertraute Hoffnung, dass vernünftige Menschlichkeit am Ende stärker sein wird als negative Emotionen.
Aber was kann denn ein FM überhaupt tun, ausser vage zu hoffen? Eine unserer Maximen ist, dass die FM als Organisation nur in seltenen Ausnahmefällen eine gemeinsame Position zu „politischen“ Fragen einnimmt. Wir diskutieren fast alles, aber wir disputieren und missionieren nicht, die Disparität der Meinungen ist unsere Stärke aber auch unsere Schwäche.
Dagegen ist jeder einzelne FM aufgerufen, die Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität in seinem privaten und beruflichem Unfeld zu kommunizieren und anzuwenden, dies unabhängig von Partei- und Religionszugehörigkeit.
Der Abschluss unseres AFAM-Rituals zeigt sehr gut auf, was gemeint ist:
Geht nun zurück in die Welt, meine Brüder,
und bewährt Euch als Freimaurer.
Wehret dem Unrecht wo es sich zeigt,
kehrt niemals der Not und dem Elend den Rücken,
seid wachsam auf Euch selbst.
Ich gebe das Wort zurück.
Vorgetragen am 19.10.2016,
gewidmet Br. Zareh Göksel, + 13.10.2016
16.10.2016 PH